LEKTIONEN IN WEHMUT
Von wegen "Survivor" ... Was in aller Welt sollte uns eine brustimplantierte, aufwendig ondulierte, sprich verwöhnte Göre mit ernsthafter Profilneurose und zarten 21 Lebensjahren darüber schon wirklich beibringen können? Fragen wir lieber Adrian Thaws. Der kann was von Survival-Training erzählen bis der Arzt kommt. Ist zwar auch gerade erst 30 geworden, aber in der Zeit, die es braucht, um eine mittelprächtige Schönheitsoperation zu rekonvaleszieren, hat der Mann mal eben seinen Major-Plattendeal gekündigt, den Manager in die Wüste geschickt, sein Leben umgekrempelt und sich selber therapiert, weil er total am Ende war und sein Umfeld mit in den Wahnsinn zu nehmen drohte. TripHop-Gott sein oder direkt um die Ecke der Hölle leben, das will er nicht mehr. Das ist keine blöde Promo-Story, sondern ein kleiner Teil der ziemlich komplizierten Geschichte eines Ex-Rappers aus Bristol, der seit seiner Schulzeit "Tricky Kid" genannt wird und der bis heute lieber "Ghetto Youth" ist statt Popstar bei Massive Attack. Kein Wunder, dass seine neue Single "Evolution, Revolution, Love" heißt. Und unseren Mann Tricky als ernsthaften Pop-Producer zurück auf die Landkarte bringt.
BATTLE OF THE POPSTARS 

Es war nicht unbedingt die smarteste Idee, den Interviewtag
auf der Terrasse eines großen Kölner Hotels am Rheinufer
stattfinden zu lassen. Gut, es ist wirklich schön heute. Aber
erstens ist der ohnehin meistens nicht gerade
hochkonzentrierte Künstler hier draußen ständig abgelenkt von schönen Beinen und laut palavernden Touristen, die im
Sekundentakt vorbeiflanieren. Und zweitens raucht er nicht
gerade die gleichen Zigaretten wie die anderen auf der
Hotelterrasse Anwesenden - was ihm entsprechende
Popularität zuteil werden lässt. Alle beobachten den von
Tattoos übersäten, schlaksigen, ketterauchenden Mann in
weißem Unterhemd und Sommerkäppi, der ungewohnt gut
gelaunt und mit seiner unverkennbaren rostigen Stimme über
sein neues Album Auskunft gibt. Aber es gibt da noch etwas,
dass wahrscheinlich nur den geübten Medienpartner-Augen
von Kollege Venker und mir nicht entgeht: am Nebentisch sitzt ein gockelnder, hochgestylter Mensch namens Perry Farrell
(ja, genau der Typ von Jane's Addiction ...), ebenfalls auf
Promo-Reise, und seinem Plattenfirmen-Betreuer anscheinend wieder mal entwischt. Jetzt, im Schatten incognito eine
Schorle schlürfend, liefert er sich mit Tricky, unerkannt von
den Hotelgästen und ohne dass die beiden sich auch nur
eines Blickes würdigen, einen kleinen telepathischen
Showkampf zum Thema "diese Terrasse ist zu klein für uns
beide". Psycho-Posing ohne Worte für Fortgeschrittene.
Almodovar hätte seine helle Freude gehabt. Da aber die
Mikrofone und Augen auf Tricky gerichtet sind und der die
Aufmerksamkeit bewusst provozierend genießt, verdrückt sich Farrell nach einiger Zeit so verhuscht, wie er zuvor erschienen
war. Also können wir irgendwann, nachdem noch schnell eine
Foto-Session sowie ein Telefon-Interview dazwischen
geschoben werden, mit dem Gespräch anlässlich des neuen
Werkes "Blowback" anfangen. We came a long way, baby ..., das heutige Interview ist immerhin unser zehntes
Zusammentreffen seit 1994. Und jedes war voller
Überraschungen. Denn was auch immer über Tricky gesagt
wird: ein Individualist ist er in jedem Fall. Und nicht gerade
bescheiden. 

"Ich messe Erfolg nicht in verkauften Einheiten. Ich kann
machen, was ich will, zu meinen Bedingungen, jederzeit.
Massive Attack verkaufen mehr Platten als ich, aber ich bin
glücklicher." (Tricky 1998) 

"Ich will der größte lebende Musiker auf der Welt sein. Ich bin
noch nicht an dem Punkt, aber ich weiß, dass ich
dahinkommen kann." (Tricky 2001) 
 

VERSIONEN IN UNMUT 

Adrian Thaws alias Tricky Kid alias Nearly God alias Tricky
hat allen Grund, vor neuem Selbstbewusstsein zu strotzen.
Das neue Album ist da, diverse Promis wie etwa Alanis
Morissette, Ed Kowalczyk (Live), Ambersunshower und die
Chili Peppers drängeln sich auf der Gästeliste. Eine ngagierte
Indie-Firma mit Händchen für schwere Jungs steuert die
Geschicke, der erste veritable Radio-Hit in den Staaten
zeichnet sich mit der ersten Single ab, und sein neuer Berater
ist niemand Geringeres als Ex-Island-Boss Chris Blackwell
persönlich. Der Kleinkrieg mit dem vormaligen
Majorlabel-Partner sowie der millionenschwere,
undurchsichtige Crash mit dem eigenen Label Durban Poison
sind Vergangenheit. Das seit zwei Jahren intensiv betriebene
Tai Chi- und Meditationstraining (kein Scherz) mit einem in
New York lebenden chinesischen Lehrmeister ("Er ist so
etwas wie mein Buddha") hat den vormals hyperaktiven,
ungesunden und chronisch schlecht gelaunten Vampir in einen drahtigen, wachen und gelassen agierenden Thirtysomething
transformiert, der momentan eigentlich die ganze Welt
umarmen möchte und gerne viel lacht, so unglaublich das
klingen mag. Er sieht immer noch so aus wie der Tricky, den
wir kennen. Etwas drahtiger vielleicht, denn auch das
gleichzeitig ebenfalls intensive Boxtraining scheint
anzuschlagen. Fit ist er, und in seinem Inneren hat sich so gut wie alles geändert. Das hört man natürlich auch in der Musik.
"Blowback" ist nicht "Maxinquaye" im 2001er-Gewand,
sondern nicht mehr und nicht weniger als ein Neuanfang unter
Rückbesinnung auf alte Tugenden. Angedeutet hatte sich
dieser Weg bereits kurz nach dem letzten Album "Angels
With Dirty Faces". Als wir uns damals in Hamburg trafen,
gestand Tricky mir abends auf dem Weg zum Konzert in der
Hamburger Markthalle ein, dass er sein Achterbahnleben
gründlich leid sei. Sein permanenter Unmut, seine
unkontrollierbare Wut, die konstante Schlappheit und der Hang zur Selbstzerstörung in Kombination mit dem hektischen
Leben eines "TripHop-Gotts" und "Über-Producers" hatten sein Familienleben und sämtliche persönliche Weiterentwicklung
im Keim erstickt. Die vermeintliche Charakterschwäche, die
kurz davor war, Trickys Leben zu zerstören, wurde, nach
geschlagenen 15 Jahren,  glücklicherweise von Ärzten als
äußerst ernstzunehmende, allergische Nervenerkrankung mit
diversen chronischen Nebenwirkungen diagnostiziert, die u. a.
auch das Hirn anzugreifen drohte. 
"Da war ich nun. 29 Jahre alt und schwach wie ein Lamm.
Wusste selten, wo ich war, und wenn, dann war es mir egal.
Wollte immer nur schlafen und kein Tageslicht sehen. Habe Telefone an Wände geschmissen, einfach so, bin total
ausgeflippt. Gemütsschwankungen, bis ich mich selber nicht 

mehr erkannt habe. Das hat natürlich alle total fertig gemacht, und mich am allermeisten. Weil keiner wusste, wieso. Ich am
allerwenigsten." (Tricky, 1998)
Tricky unterzog sich sofort den dringend notwendigen Behandlungen. Nahm "Nearly God" und "Pre-Millenium
Tension" auf, als Therapie und Momentaufnahme. Und zog
weg aus dem Dunstkreis Bristol, hinein in den Moloch New
York. 
 

DIKTIONEN IN SCHWERMUT 

"Ob du es glaubst oder nicht: ich habe kürzlich zum ersten Mal seit meiner Kindheit bewusst die Sonne gesehen, den
Tagesanbruch. Und zwar nicht, weil ich so spät ins Bett
gegangen bin, sondern weil ich so früh aufstehen wollte. Weil
ich mich auf den Tag gefreut habe wie früher als kleiner
Junge. Seit meiner Schulzeit haben sie mich immer "Tricky
Kid" genannt, weil ich ein Duckmäuser war, immer auf
Tauchstation, völlig unzuverlässig. Wenn ich aufstehen sollte,
blieb ich liegen, und wenn ich schlafen sollte, hielt ich mich
wach. Ich habe mich permanent verweigert. Und das setzte
sich so fort, selbst bei Massive Attack sind mir andauernd so
Sachen passiert, als wir richtig abgingen. Die Jungs fuhren mit dem Management zu irgendwelchen Award-Verleihungen, und
ich war wieder nicht dabei. Weil ich mit Kumpels in irgendeiner Kneipe gesoffen habe und es mir völlig egal war, wie spät es
war. Daddy G und die anderen waren natürlich zu Recht sauer, aber ich konnte einfach nicht anders. Und als dann Nellee
Hooper (Bristoler Producer, u. a. Neneh Cherry und eben
Massive Attack) in seinem Studio einen Zeitplan aufstellte, wir
morgens um neun zum Auf-Kommando-Produzieren
erscheinen mussten, und zwar jeden Tag, da kam ich dann
auf die Idee, ab sofort nie wieder irgendwelche Songs zu
machen, die radiofreundlich sind und schön anzuhören. Und
das habe ich bis heute durchgezogen. Es gelten meine
Konditionen." (Tricky 1999) 

"Ich will die größten Songs schreiben, Mann. Ich will die
Radiolandschaft verändern mit meinen Liedern. Dagegen habe
 ich mich lange gesträubt, weil ich nicht Teil von all dem
Bullshit da draußen sein wollte. Das war damals meine
Einstellung. Aber jetzt bin ich an einem anderen Punkt. Es
muss endlich was passieren. MTV, BET, Radio - all das Zeug,
da läuft doch echt nur Müll. Das muss geändert werden. Die
tun immer so, als ob sie Musikfernsehen oder Musikradio
wären. Aber das sind sie gar nicht, weil da fast nur der
Musikmüll läuft. Das muss aufhören, das ist Quatsch. Es wird
Zeit, dass sie da neue Musik spielen. Wenn du weißt, was ich meine ..." (Tricky 2001) 

Und für diese neue Mission fusioniert der Mann auf "Blowback" wieder mal scheinbar Unfusionierbares. Wie etwa, wenn er den Reggae-MC Hawkman auf Ed Kowalczyk treffen lässt und
dazu seine monoton-deepen Lyrics murmelt. In einem
feierlichen Popsong mit Streichern. Und danach Alanis offroad
mit den Peppers und Ambersunshower. Und dann ein
Kinderlied. Alles geht. Für Tricky völlig normal. Einfach genial
oder genial einfach? "Die Leute analysieren immer zuviel. Sie
interpretieren. Ich halte mich nicht damit auf, in Kategorien zu denken. Ich tue Dinge einfach." (Tricky 2001) 

"Martina saß auf einer Mauer in Bristol in der Stadt, und ich
ging vorbei. Sie gefiel mir, und ich hab' sie gefragt, ob sie was
für mich singt. So einfach war das." (Tricky 1994) 
 

DAS ENDE ALS ANFANG

Trickys Zweitkarriere als Schauspieler wird unterdessen kaum
weitere Früchte tragen. Den bisher einzigen Film, in dem er
mitgewirkt hat, Luc Bessons "Das Fünfte Element", hat er nie
ganz gesehen, nur bis zu der Stelle, in der er das erste Mal
vorkommt. "Wenn ich nicht Musiker wäre, dann wäre ich gerne Gangster geworden. Alles, was damit zu tun hat, fasziniert
mich total. Und wenn ich überhaupt noch mal schauspielern
sollte, dann in einem vernünftigen Gangsterfilm, als echter
Schurke. Ich wäre ein richtig guter Gangster geworden, echt."
(Tricky 2001) 

Stattdessen beobachtet er jetzt nicht mal mehr Gangster in
Midtown Manhattan, bei unserem letzten Treffen noch seine eigentliche Lieblingsbeschäftigung, sondern chillt lieber im
Wald, Upstate New Jersey - was einhergeht mit einem
Standortwechsel. "Ich habe mir zwei Morgen Land gekauft. Da
steht mein erstes eigenes Haus, alle meine persönlichen
Sachen sind da. Noch nie vorher hatte ich alle meine
persönlichen Dinge an einem Platz. Das ist ein gutes Gefühl."
(Tricky 2001) 

Das klingt weder nach Midlife-Crisis noch nach Aufgabe.
Einfach mal Wurzeln schlagen, nachdenken können, Seele
baumeln lasen. Nach all dem Irrsinn. Auch hier wieder: alles
viel einfacher, als es scheint ... 

"I need a headrest and feed from a warm breast ..." 
(Tricky, "Excess", vom neuen Album) 
In diesem Sinne: Evolution, Revolution, Love. Dem Mann sei's von Herzen gegönnt... 

TEXT: GEORG BOSKAMP 
FOTO: RAINER HOLZ 

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  photo: Rainer Holz

(c) Intro 2001
 
 
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